Leseprobe Die Spur der Schweine von Uli Wohlers

Uli Wohlers – Die Spur der Schweine21. Dezember
Tissemyregård bei Nyvest
15 Uhr 20

Wetter: veränderlich. Starker Nordwestwind. Windstärke 5–6, in Böen Sturmstärke. Temperaturen um den Gefrierpunkt. Tendenz: fallend.

„Ich wollte schon immer einen Swimmingpool haben“, flüsterte Stig. Das war das Erste, woran er dachte, als er den Toten in der Gülle treiben sah.

„Einen Swimmingpool …“, wiederholte er schon etwas lauter und sah sich dabei um. Der Ort konnte kaum düsterer sein. Der Dezemberwind blies vom Meer, offenbar aus Nordwest, und brachte Regen mit. Blaugrau standen Wolkenmassive im Westen. Man musste kein Meteorologe sein, um zu ahnen, dass sie Schnee bringen würden. Für das Protokoll sah Stig auf die Armbanduhr. Es war 15 Uhr 20, aber das dunkle Ziffernblatt seiner alten Aquaracer von TAG Heuer war kaum noch zu erkennen.

Bald würde es dunkel sein. Stig fror. Sein Staubmantel wehte ihm wie ein nasser Feudel um den Körper, und sein edler Anzug war völlig durchnässt. Sogar seine Automatik, die schwer im Schulterhalfter über dem Herzen steckte, konnte er auf einmal spüren. Plötzlich war sie etwas Fremdes an seinem warmen Körper. Etwas, das immer kälter wurde, da er nicht mehr genug Energie erzeugen konnte, um das schwere Stück Stahl mit zu wärmen. Wenn er die automatische Waffe nicht so gut eingeölt hätte, würde sie an so einem Tag vielleicht sogar Rost ansetzen.

Stig fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er kam sich vor wie eine Vogelscheuche, die sinnlos Sturm und Regen trotzte. Und das, obwohl er sich für seinen ersten Arbeitstag extra fein gemacht hatte. Eigentlich war er ein unauffälliger Typ. Mittelgroß, mit dichten blonden Haaren, nicht besonders athletisch gebaut. Seine Konfektionsgröße war bei Kvickly immer vorrätig, aber als Sonderangebot immer als Erste ausverkauft. Normalerweise trug er im Dienst lässige Kleidungsstücke: Jeans, Kapuzensweatshirt und Turnschuhe. Er liebte eingetragene Kleidung. Es gefiel ihm, immer gleich auszusehen. Zweimal hatte er sich morgens den neuen Anzug vom Leib gerissen und war wieder in seine alten Klamotten geschlüpft. Als er sich dann gezwungen hatte, den Anzug anzubehalten, hatte er die Frühfähre nach Bornholm verpasst.

Stig atmete tief durch. Der Gestank war trotz Sturm und Kälte so stark, dass er, obwohl er sich schon eine halbe Stunde an diesem Ort aufhielt, immer noch damit zu tun hatte, seinen Mageninhalt dort zu belassen, wo er hingehörte. Er stand am Ufer des größten Güllesees, den er je gesehen hatte. Es war in der Dämmerung kaum möglich, das andere Ufer dieser Lagune aus Schweine-Urin zu erkennen. Stig schüttelte den Kopf, als ihm einfiel, dass „Lagune“ tatsächlich der Fachbegriff für diese infernalische Kloake war. Am Horizont erblickte er ein paar tote Bäume. Jahrzehntelang hatten sie sich vor dem Wind geduckt, um schließlich an der Übersäuerung des Bodens einzugehen.

Dies war kein Platz, an dem man gerne verweilte, aber Stig wartete auf die Kriminaltechniker. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn er den Mann, der dort, mit einem dunklen Arbeitsanzug bekleidet, bäuchlings in der Gülle trieb, allein ließe. Auch wenn er bereits seit Stunden tot war, als die Kriminalpolizei verständigt wurde.

„Ich wollte immer schon mal einen Swimmingpool haben …“, schoss es dem jungen Kommissar wieder durch den Kopf. Es war ein Zitat aus einem alten Hollywoodfilm, gesprochen von einer Leiche. Die Filmleiche trieb genauso im Wasser wie der Tote in der Gülle. Stig sah gern alte Filme. Viele Tage seines Lebens hatte er auf dem Sofa vor dem Fernseher verbracht. Es waren nicht die schlechtesten gewesen. Dieser Schweinehof im Süden Bornholms verströmte allerdings nicht das Flair von morbidem Luxus. Der Güllesee lag neben einem fabrikähnlichen Riesenstall. Graue Silos ragten wie Türme empor.

Immerhin hatte der Mann hier viel mehr Platz als in einem Pool. Während Stig den Ort untersucht und die Techniker gerufen hatte, war der Tote schon ein ganzes Stück in der Gülle herumgekommen. Das mochte an den Böen liegen; die erschwerten auch Stig das Bleiben. Er dachte an Søbranda, die er heute Morgen vielleicht zum letzten Mal gesehen hatte. Sicher war es aus vielen Gründen besser, sie in Kopenhagen zu lassen, aber ohne den Hund fühlte er sich in dieser unwirklichen Szenerie noch verlorener. Er konnte nichts tun, als zu warten und immer nässer zu werden. Irgendwann gab er es auf, noch einen guten Eindruck machen zu wollen. Stattdessen dachte er darüber nach, was sich dieser Tote wohl einmal gewünscht haben mochte. Immerhin war bald Weihnachten. Wie er so kurz vor dem Fest in den Exkremente-Pool dieses Schlachtvieh-Gulags geraten war, fragte sich Stig lieber nicht. Es war einfach zu absurd. Noch kannte er die neuen Kollegen nicht, aber bestimmt fiele ihnen etwas zu diesem Todesfall ein. Sie kannten die Insel wie ihre Westentasche, während er trotz gelegentlicher Aufenthalte der Fremde war. Ob auch der Tote ein Fremder war? Wenn auf Bornholm ein Verbrechen passierte, hatte es meist etwas mit Fremden zu tun. Plötzlich hatte er Mitleid mit der Leiche. Aber immerhin bot sie ihm Gewissheit, nicht von einer Minute zur anderen um die Hälfte seiner Körpergröße geschrumpft zu sein. Zu groß waren diese Silos, zu unendlich der See und zu bedrohlich die Wolkenwand.

„Was hast du dir gewünscht, mein Freund? Und wer wünschte dich zum Teufel?“, rief Stig in Richtung der dümpelnden Leiche. Die Furcht, die ihm den Rücken hoch gekrochen war, legte sich beim Reden ein wenig.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du da selbst rein gesprungen bist, um deinen Kraulstil zu perfektionieren. Also was war los?“

Stig trat ein paar Schritte vor, um den Toten besser im Blick zu behalten. Um den See herum waren Betonplatten verlegt. Auf ihnen hatte Stig weder Spuren noch sonst wie geartete Hinweise gefunden. Am Morgen hatte es geschneit, doch der Schnee war geschmolzen und hatte alle Spuren vernichtet. Stig rieb sich die Arme, ohne dass ihm davon wärmer wurde. Das Warten zerrte an seinen Nerven, und er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken mehr und mehr um die Frage kreisten, was hier geschehen war.

Manche Tatorte – falls es sich hier überhaupt um einen handelte – gaben einem auch ohne Spuren wichtige Hinweise. Stig hoffte auf irgendeine Intuition, die sich später durch Fakten erhärten würde, einen Anfangsverdacht, der sich aus der Szenerie ergab. Diesen ersten Eindruck konnte man oft nutzen und vertiefen. Außerdem schien es ihm vernünftiger, mit einem Toten zu reden, als einfach nur da zu stehen und zu beobachten, wie ihm der Mantel um die nassen Beine schlotterte und die Leiche in der Gülle trieb.

„Also?“, brüllte er. „Sag was! Oder gib mir ein Zeichen!“ Der Wind heulte über dem Hügel. Sonst blieb alles still.

Aber was war das? Stig glaubte, seinen Namen zu hören. Hatte jemand seinen Namen gerufen? Oder kamen die Geräusche aus dem Stall, in dem sich Hunderte oder Tausende urinierende Schweine aufhielten? Bis jetzt war von den Tieren nichts zu hören gewesen.

Stig reckte den Kopf, da er die Leiche nicht mehr sehen konnte. Das konnte doch gar nicht sein! Entweder hatte er zu lange auf einen Punkt gestarrt oder die Leiche war hinter den Wellenkämmen verborgen.

Der Sturm heulte auf. Dicke Schneeflocken fielen. Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Stig drehte sich erschrocken um.

„Papuga?“, sagte die Leiche, offenbar erfreut, ihn gefunden zu haben. Plötzlich stand sie genau neben ihm am Rand des Güllesees.

Panisch riss Stig die Augen auf, sein Herz raste, und er öffnete den Mund zu einem tonlosen Schrei.

(Mit freundlicher Genehmigung des Braumüller Verlag, A-1090 Wien)




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